Benjamin Apfelbaum schreibt über Garbor, den Dünnen und wie es möglich ist, sich gleichzeitig zu viele und zu wenig Gedanken zu machen.
Unter schwebenden Lasten lauert der Tod
So steht es geschrieben. Unter Kränen, an Therapeutinnenennenwänden, dem Eingang der lokalen CrossFit-Box, dem Zeppelinhafen in Staaken, auf Grabstätten in der Lausitz, fern, fern im tibetischen Hochland und auf der ersten Seite des Oktavhefts vom Dünnen – natürlich geschrieben in Sütterlin.
Wer sich der schwebenden Last schuldig macht
Nahe der Last schwebender Schuldiger lauert
Wer sein eigenes Schicksal überdauert
Während Regens listig wacht
Die Legende vom Damalstag
Früher. Früher war alles: Zeit. Lachen. Weinen. Sommer. Winter. Geld. Gefühle. Niemand. Alle. Damals war ja viel früher als heute und natürlich war damals auch nicht alles. Ganz im Gegenteil. Früher war ja vor allem weniger.
Seitdem ist so viel Zeit vergangen. Keiner weiß genau wie viel, aber so wie Garbor die Sache einschätzt: eine ganze Menge. Er macht das an den Falten in seinem Bett und wie grau seine Augen geworden sind fest.
Von Vorne
Wenn ich nochmal ganz von vorne anfange
Dann lerne ich meine Hände zu benutzen
Meine Augen zu schließen
Richtig zu atmen und weiß nicht, was lügen ist
Ich gründe eine Firma für Beregnungsanlagen
Arbeite in einem Park und
Liege unter dem nieselnden Regen
Mit einer Zigarette im Mund einem Lächeln
Abenteuerparfum
Es riecht nach Abenteuer, nach Meer und auch. Nach Peter Jakob Kühn und kaltem Rauch. Nach einer Prise zu viel und elftausend Schritt nach Mitternacht. Es fühlt sich an wie immer wach. Es schimmert wie Feuer, Schall und Rauch. Nach ich will dich und du mich auch. Es schmeckt nach Blut und Eisen und Salz. Nach Tragik und Bass und deiner Hand an meinem Hals. Es verspricht alles bleibt neu, wird niemals alt. Es klingt nach tosendem Wasser, klirrend kalt.
Tagedieb
Ich fühle mich ganz
Leer, schwer
Arme atemlos
Warten
Nur bloß
Auf wen, auf was, warum?
Frag ich mich
Und bleib doch stumm
Erbeerleben
Ich habe Träume, in denen mein Leben in Marmelade fällt und sich jede Sekunde wie eine tragische Stunde Matheunterricht anfühlt. Schlimmer noch, alles schmeckt nach billiger Marmelade. Erdbeermarmelade. Ich mag Erdbeermarmelade überhaupt nicht. Erdbeermarmelade ist der 90er-Jahre-Pornostar der Marmeladen: Aus einiger Entfernung irgendwie geil, aus der Nähe sieht man dann die zentimeterdicke Schminke und die furchtbar aufgepumpten Titten. Nichts als Zucker und Enttäuschung.
Die Sache mit der Zeit
Die Frage ist ja, wenn man die Zeit anhält, kann man dann für immer die Luft anhalten und kommt damit ins Guinnessbuch der Rekorde? Wer überprüft das dann aber? Topft Blut trotzdem auf den Flokati, auf die weißen Hotel-Slipper und den Bademantel? Läuft der Warmwasserzähler weiter und wachsen einem mehr graue Haare? Wie funktioniert Zeit überhaupt?
Eimerliste
Ich verstehe das mit dieser sogenannten Bucket List nicht. Warum packen Leute kleine Zettel, wo Dinge drauf stehen, die sie noch machen wollen bevor sie sterben, in Eimer?
Wann fängt man mit diesen Zetteln an? Wird man da irgendwie bewertet nach, wenn man in den Himmel kommt?
Probeabonnoment
Der Dünne steht mit tropfnassen Haaren im Hotelzimmer und staunt. Am Tisch sitzt Garbor, vor ihm steht eine dampfende Tasse mit Kaffe, er liest Tageszeitung.
“Ich wusste gar nicht, dass es Zeitungen noch gibt. Ich dachte immer, die wurden im letzten Sommer eingestellt?”
Garbor schaut hoch und faltet die Zeitung zusammen.
“Direkt nach der Schule habe ich Probeabonnoments für den Tagesspiel verteilt. 14 Tage umsonst – mussest nicht mal unterschreiben.”
Katastrophenschutz
Es ist ein Donnerstag mitten im November und es ist so, wie es die kommenden vier Monate immer sein wird: Halbdunkel. Garbor steht im Bad und hängt Wäsche auf, als es an der Tür klingelt.
“Ja, bitte?”
“Hallo, wir sind vom Katastrophenschutz, können wir kurz stören?”
“Erm, wie jetzt?”
“Ka-ta-strophenschutz.”
Camaro
Garbors Auto ist ein Camaro SS von 1969. SS steht für Super Sport, nur damit hier keiner auf dumme Ideen kommt. Solange er denken kann, wollte er dieses Auto haben. Immer schon. Das Problem ist: Garbor kann nicht mit Geld umgehen und hat überhaupt keinen Plan von Autos. Also, fahren geht schon, aber sowas wie Ölwechsel, Reifenwechsel und was man sonst noch so wechseln kann, sollte oder muss: Fehlanzeige
Engtanz
Es gibt viele Dinge, die wir in der Schule und der Arbeit lernen. Die meisten Dinge davon machen keinen Sinn. Sie nehmen viel Raum ein, viel Zeit und belagern das Hirn, wie die Engländer Calais um 1340.
Hier ein paar Beispiele: Ablativus absolutus. Binomische Formeln. Das Periodensystem der Elemente. Zeittafeln von Kriegen. Wie man die Stunden auf das richtigen Projekt bucht. Spesenabrechnungen und das korrekte Benennen von Dateien.
Verschwiegenheitsklausel
„… wenn Sie bitte hier, hier und hier unterschreiben wollen, Herr Garbor?“
„Es ist eigentlich nur Garbor, aber ja. Was ist denn das, was ich da unterschreibe?“
„Das ist unsere Verschwiegenheitsklausel. Damit verpflichten Sie sich sowohl über ihre Gefühle zu schweigen, als auch über das Schweigen zu schweigen und generell in der Sache nichts mehr zu empfinden.“
„Also, aha. Aber wie soll ich das denn machen?“
„Na hier, mit dem Federhalter überall dort, wo ein X ist.“
Kopf vs. Karussel
Auf der Kirmes steht Garbor vor dem Kettenkarussel und sieht den Kindern beim Einsteigen zu. Der Dünne winkt ihm zu, dreht sich um und klettert auf einen der Schalensitze. Garbors Schlumpfeis schmilzt, läuft an der Waffel herab und tropf wie in Zeitlupe auf den Boden, während die Sicherungsstäbe laut hörber zuklappen. Das Karussel fängt leise an zu surren und nimmt Fahrt auf. Der Wind in den Haaren der Kinder ist spürbar, das Gekreische fängt an, das Karussel wird schneller. Von hinten kommt Garbors Vater und legt behutsam seine Hand auf seinen kleinen Kopf.
Führwahr
Garbor und der Dünne sitzen auf der frisch renovierten Terrasse des Tuxford Falls Hotels, schälen Pistazien und rauchen. Garbor war fest davon überzeugt, dass Rauchen und Trinken zum Schreiben gehörten, wie das Schreiben an sich. Wenn es für unzählige Autoren und Musikerinnen gut funktioniert hatte, wäre es sicherlich für ihn, der nun in dieser vertrackten Lage war, zumindest eine gute Basis .
Einhundert Milliarden
„Die Frage ist, lieber Kandidat, was würden Sie mit einhundert Milliarden Euronen machen? Und denken Sie daran, nur eine einzige Antwort ist korrekt. Denn ihre Antwort entscheidet über Leben und Tod.“
Der Dünne gießt sich mit zitternder Hand ein Glas mit Nikka voll und wirft die leere Flasche ins Publikum. Dann nimmt er einen verwegen großen Schluck, verzieht keine Miene und atmet schwer aus. Im Saal ist es mucksmäuschenstill still, man kann die jungen Menschen verzweifelten schwitzen hören. Sekunden werden zu Minuten.
Sabbatical
Garbor steht vor dem Spiegel und rasiert sich. Die Uhr zeigt 23:12 an. Der Dünne kommt herein.
„Ey, Garb, Auf dem Balkon ist irgendein Tier!“
„Dünner, es ist zu spät für Tiere. Was solln da sitzen? N Fuchs?“
„Na was weiss ich! Aber da sitzt halt was. Das ist doch nicht normal. Füchse können ja die Wand nicht rauflaufen und Raben schlafen jetzt schon!“
„Und was soll ich jetzt machen?“
„Ich weiss nicht. Was ist, wenn das was will?“
Wasserfalle
in Wasserfall klingt eigentlich gar nicht wie Wasser. Jedenfalls nicht wie gewöhnliches Wasser. Nicht wie ein Pool, nicht wie eine Dusche, eine Spülung. Nicht wie Brandung, die Nachts tosend nach dir schnappt. Nicht wie Regen, wie Tränen, wie Pfützen voll Gedanken, die doch weggespült werden.
Es ist also mehr das Fallen, das den Unterschied macht.
Schlecht temperierte Armut
Garbor betrachtet das Glas, das vor ihm steht. Es ist leider noch immer da. Puh. Nichts vergeht langsamer als Zeit, wenn man sie hat und nichs mit ihr anzufangen weis.
„Fahr uns nach Hause. Du bist betr unkener als ich.“
Eine wundervolle Kombination aus ausgedachter Tristesse und kultivierter Hefekultur. Eine zauberhafte Idee von dem was sein kann und sein müsste, sollte. Ich wünsche, du wärst eine akkurate Beschreibung der Situation. Was fehlt eigentlich? Nichts. Das ist ja das schlimme.
Wie ich den Dünnen traf
Am meisten Angst machen mir die Leute, die nicht mit sich selber reden.
Die Menschen, die keine ausgedachten Freunde haben. Die Menschen die ihre Gedanken nicht mit jemandem teilen, den sie selber erschaffen haben. Menschen, die glauben, dass die Dinge so sind. So und nicht anders.
Ungefähr ein Drittel aller Kinder hat imaginäre Freunde. Früher hat man gedacht, die Kinder wären plemplem. Heute weiß man, dass Kinder damit ihr Sozialverhalten trainieren und so lernen mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen umzugehen.
“Ich schreibe lediglich, um herauszufinden, was ich denke, was ich anschaue, was ich sehe und was es bedeutet. Was ich will und wovor ich mich fürchte.”
— Joan Didion