Erbeerleben
Garbor sitzt auf einer einfachen Holzbühne auf einem Stuhl und fährt sich durch die Haare. Der Raum ist prall gefüllt, wo eben noch eifrig getuschelt wurde, kommen jetzt die Menschen langsam zur Ruhe und es wird still. Die Stehlampe neben Garbor geht an, sein Gesicht ist strahlend hell erleuchtet, Schweißperlen bilden sich auf seinen Wangen.
“Ich habe Träume, in denen mein Leben in Marmelade fällt und sich jede Sekunde wie eine tragische Stunde Matheunterricht anfühlt. Schlimmer noch, alles schmeckt nach billiger Marmelade. Erdbeermarmelade von Aldi. Ich hasse Erdbeermarmelade. Erdbeermarmelade ist der 90er-Jahre-Pornostar der Marmeladen: Aus einiger Entfernung irgendwie geil, aus der Nähe sieht man dann die zentimeterdicke Schminke und die furchtbar aufgepumpten Titten. Nichts als Zucker und Enttäuschung.
In meinen Träumen bin ich auf einem Date. Wir sitzen so in einem Café in Neukölln, trinken Flat-Aperol-Sours und ich versuche mich mit aller Kraft auf das Gespräch zu konzentrieren. Aber weil die Zeit so langsam läuft kann ich kein einziges Wort verstehen. Es macht mich wahnsinnig, ich fange an zu schreien, werfe Stühle und Tische um, zünde mich an und renne aus dem Laden, hinaus auf die Straße. Weiter immer, weiter. Bis an den See, wo ich mich ganz vorne an den Steg knie und unfassbar kotzen muss. Alles was herauskommt ist natürlich Marmelade. Ich falle nach vorne in den See, und dem Augenblick, in dem ich die Wasseroberfläche berühre, wache ich auf.
Dann liege Ich in meinem Bett, das Flauschekrokodil liegt zusammengerollt auf dem Kopfkissen neben mir und schnarcht ganz leise. Ich richte mich auf fühlt mich unfassbar leer und trotzdem aufgebläht, neben dem Bett steht ein leeres Glas mit Marmelade, eine offene Tüte billiges Weißbrot, ein zerstörter Wecker und ein kleiner, rosa Hammer.. Ich stehe auf, gehe ins Bad und putze mir die Zähne, aber egal, wie oft ich Zähne putze: der verdammte Geschmack geht nicht weg.
Der Dünne behauptet, es liegt daran, dass ich irgendein beklopptes Trauma habe, aber ich denke, es liegt am Mond. Es muss am Mond liegen, schließlich ist seit zwei Wochen Vollmond und selbst tagsüber ist der Mond klar und deutlich von überall zu sehen. Überall wo ich hingehe. Im Bad, in der Bibliothek, im Wald bei der Therapie und der Küche — überall scheint dieser Scheiss-Mond.
Also schreibe ich mir selber eine Entschuldigung fahre zur Schule und werfe sie im Sekretariat ein. Als Grund für mein Fehlen schreibe ich wie immer “Das geht dich gar nichts an”, weil das ja auch stimmt. In was für einer Welt leben wir eigentlich, in der ich mich vor anderen Menschen rechtfertigen muss, wenn ich nicht kann oder will? Fällt mir ja vor mir selbst schon schwer genug, danke der Nachfrage. Wieder draußen, will ich mein Fahrrad abschließen und merke, dass auch die Fahrradreifen mittlerweile aus Marmelade sind. Wie jeder normale Mensch fasse ich daher den Entschluss nach Hause zu trampen und meine Flucht aus diesem unfassbaren Albtraum zu planen.
Also Finger raus und nach ein paar Minuten hält ein Camaro. Der Dünne sitzt am Steuer und schiebt seine irgendwie coole aber auch unfassbar lächerliche Sonnenbrille ein Stück nach vorne, als wäre er Snow im Video von Informer.
“Na Garbi, was machst du denn hier? Ich denke, du sitzt in deinem Zimmer und schreibst am Buch? Wie bist du überhaupt rausgekommen? War doch abgeschlossen!”
“Ja, also, ich wollte auch. Aber dann haben da so Leute vom Katastrophenschutz geklopft und auf einmal sind die Scheiben explodiert und alles war voll mit Wasser. Dann sind wir aus dem Zimmer gespült worden und, ach, ich weiß ja auch nicht.”
“Steig ein, ich fahr dich heim.”
Und das machen wir dann auch. Wieder raus aus der Stadt, die sich im Rückspiegel in ein einziges, riesiges Erdbeermarmeladen-Inferno verwandelt. Im Radio singt Paula Hartmann ‘fahr uns nach Hause, du bist betrunkener als ich’ und die Felder, die Landstraßen verschwimmen. In diesem seltsamen, leisen Brandenburg, dass tatsächlich Burgen hat. Storkow, Senftenberg oder Rabensburg zum Beispiel. Aber ich wette die sind auch längst Marmelade, so wie sich alles über kurz über lang in diese Scheiße verwandeln wird. Natürlich auch ich. Und ich bin mir nicht sicher, wie lange ich mich noch aushalten kann.
Kann man sich überhaupt aushalten? Oder haben die Menschen deswegen Arbeit, Hobbies und Süßkrams wie Marmelade erfunden: Damit man sich nicht aushalten muss? Ich meine, wie viele Menschen kennst du, die länger als ein paar Stunden gut mit sich selber klarkommen? Ich meine jetzt nicht so n Nachmittag und bisschen in der Wohnung putzen. Nicht so ein Post-Saufen-Depressions-Sonntag. Ich meine nicht so eine lange Trekkingtour durch Norwegen (obwohl ich davor größten Respekt habe). Nein, ich meine so ein paar Jahrzehnte, ohne dass du dir ständig eine reinhauen willst oder aus Langeweile und Angst ne Familie gründest oder Schalke-Fan wirst. Alleine. Mit dir. Nachts. Ich konnte es nie.
Zapp, zapp und zappzerapp.
Trag dich im Kreis, mach bloß nicht schlapp.
Flieg nach vorne, nimmermehr
Deine Seele, tonnenschwer.
Halt dich fest an dir, halt dich gut fest
Die anderen hat längst die rote Pest
Halt dich fest, lass dich nicht los
Zapperapp und aus die Maus
Für immer hier, kommst nicht mehr raus.
Mit einem Ruck kommt das Auto wieder zum Stehen. So steigen die beiden langsam aus und vor ihnen steht lächelnd Malte Schneider, der Hotelmanager.
“Wie schön, dass sie wieder bei uns sind, Herr Garbor. Ich habe mir ja Sorgen gemacht! Abgereist? Und das so kurz vor der Lesung? Das kann ja gar nicht sein. Nein, nicht Herr Garbor. Nein. Ein Glück sind Sie wieder da. Nun denn, kommen Sie, kommen Sie. Das Abendessen wartet schon.”