Engtanz
Es gibt viele Dinge, die wir in der Schule und der Arbeit lernen. Die meisten Dinge davon machen keinen Sinn. Sie nehmen viel Raum ein, viel Zeit und belagern das Hirn, wie die Engländer Calais um 1340.
Hier ein paar Beispiele: Ablativus absolutus. Binomische Formeln. Das Periodensystem der Elemente. Zeittafeln von Kriegen. Wie man die Stunden auf das richtigen Projekt bucht. Spesenabrechnungen und das korrekte Benennen von Dateien.
Was wir nicht lernen: Wie man mit Geld umgeht oder warum man besser nie fett wird. Noch schlimmer, wir lernen nicht, mit uns selber auszukommen. Wie man andere Menschen behandelt, und was man tut, wenn man gerade an alldem scheitert. Nichts über Liebe, über Wut und Verlust. Wir lernen noch weniger über Verlangen und Vertrauen. Weil es uns keiner beibringt in der Schule und schon gar nicht auf der Arbeit. Wir tun so, als würde man das auf dem Weg lernen. Wir können hoffen, dass unsere Eltern uns das mitgeben oder der gesunde Menschenverstand. Aber das ist gelogen. Und es ist wahrscheinlich die schlimmste Lüge von allen. Der gesunde Menschenverstand führt Krieg und hat Mathe-Leistung. Deine Eltern sind im Dispo und kaufen Champignons dritte Wahl im Glas. Nicht weil sie böse sind oder dich nicht lieben würden. Woher sollten Sie es besser wissen?
Wenn wir es lernen, dann nebenbei — wenn wir Glück haben, uns Zeit nehmen und genau hingucken. Wir lernen es auf dem Schulhof, auf dem Weg zur Arbeit in der U-Bahn, bei unserem ersten Bier oder dem sechsten Apfelkorn. Wir lernen es, wenn der Opa einen zum lachen bringt oder die Eltern sich Gläser an den Kopf werfen. Wir lernen es, wenn das Herz uns beim Engtanz bis zum Halse schlägt und man sich endlich küsst. Wir lernen es, wenn der beste Freund stirbt und wenn man das erste Gehalt zum Fenster hinauswirft. Wir lernen es beim Tischtennis mit den Freunden und wenn einer von ihnen dann mit deiner Freundin schläft. Wir lernen es beim aufmerksamen Hinhören in der Stille und beim Rennen ins Wasser, mitten in der Nacht, nackt und voller Adrenalin.
Wir lernen es beim lesen und beim schreiben. Beim singen und malen, beim schlafen und beim fühlen, beim nachdenken und beim ausprobieren. Binomische Formeln haben damit nichts zu tun.
Das alles ist nicht neu und klingt auch wohlbekannt. Und doch, am nächsten Morgen sitzen alle wieder auf ihren Stühlen und buchen ihre Stunden auf das richtige Projekt. Denn sie wissen ja, was passiert, wenn sie das nicht machen: Die Welt geht unter. Und das kann ja keiner wollen. Was sie wollen ist Stabilität und Waffenlieferungen und günstige Kredite für das Haus in Brandenburg.
Ich nicht.
Ich will nächtelanges Anstehen für Nichts und wieder Nichts.
Ich will Prahlerei und Schamgefühle, kayalgeschminkt und hochgebrüllt.
Ich will kommunikationsfreie Gewalt; Tränen aus Feuer.
Ich will Exzess, mein Liebling – die Angst vorm Tag danach.
Ich will nach Hause kommen und alles knistert.
Ich will Ruhe und Ruhe allein.
Ich will mich und einfach sein.
Ich will jeden Tag Engtanz.